17.02.2020 VAZ: Anzeichen für zweites Wolfsrudel

Sie streiften unbekümmert durch Wald- und Wiesenlandschaft, sie hatten kein Problem damit, auf einer Kreisstraße zu rasten. Im südlichen Landkreis Verden mehren sich die Anzeichen für ein zweites Wolfsrudel, das sich ansiedelt. Die gesamte restliche Tierwelt hat längst auf den neuen Mitbewohner und zuweilen auch natürlichen Feind reagiert.

Landkreis – Ein ganz normaler Freitagmittag auf der Kreisstraße zwischen Kirchlinteln und Kreepen. Nur wenige Fahrzeuge sind im norddeutschen Schmuddelwetter, das sich Winter nennt, unterwegs. Plötzlich die Begegnung der grauen Art. „Ich bin voll in die Bremsen gestiegen“, berichtet der Autofahrer hinterher. Direkt vor der Ortschaft Brammer, da ist es passiert. Zwei Wölfe lümmeln sich auf dem Asphalt. Aufgeschreckt rennen sie davon.

Eine halbe Stunde später das nächste Aufeinandertreffen. Wieder ein Autofahrer, wieder Wölfe. Und einige Zeit später in Odeweg ein etwas dauerhafteres Dokument. Eine Wildkamera löst an einem der Waldwege aus. Im Hintergrund mit einigem guten Willen und viel Fachkenntnis zu erkennen ein Isegrim. Für Wolfsberater Helmut Meyer elektrisierende Hinweise. „Das sind untrügliche Anzeichen für ein zweites Wolfsrudel im Landkreis Verden“, sagt er auf Nachfrage, „erstmals ein Wolfsrudel auf der Ostseite der Autobahn.“ Und auch die Frage, ob die Gemeinschaft, die als Stemmener Rudel in die Schlagzeilen einging, aber eher Otersen zuzuordnen ist, ob diese Gemeinschaft nicht einfach umgezogen ist, war schnell und drastisch beantwortet. Meyer: „Gleichzeitig verzeichneten wir einen Rehriss bei Otersen.“ Für ihn eine wichtige Bestätigung, aber keine überraschende Entwicklung. „Zurzeit verzeichnen wir rund 90 Prozent aller kreisweiten Wolfsmeldungen in der Gemeinde Kirchlinteln.“ Aber das werde nicht so bleiben. „Einzeltiere sind in der gesamten Region schon jetzt unterwegs, langfristig dürften sich weitere Rudel im Norden des Landkreises ansiedeln, in der Wümme-Niederung und in Thedinghausen zum Beispiel“, sagt Meyer. Alles noch eine vergleichsweise undramatische Entwicklung. „Spannend wird es erst, wenn tatsächlich die großen, weiten Flächen besiedelt sind und erste Revierkämpfe ausbrechen.“

Die Tierwelt hat sich längst auf den neuen, alten natürlichen Feind eingestellt, das Rotwild genauso wie das Damwild, Rehe also und Hirsche. Bei Einbrechen der Dunkelheit über die Straße huschende Ricken? Unbedarfte Jungtiere, die mit der Gefahr von Autos überhaupt noch nichts anzufangen wissen? „Das ist eher selten geworden“, sagt auf Nachfrage Jägerschafts-Vorsitzender Jürgen Luttmann, „sie ziehen später los. Ihr Verhalten hat sich deutlich geändert.“ Das Wild bevorzuge die nächtlichen Stunden, ziehe in größeren Verbänden durch die Landschaft. „Das stellen wir an vermehrtem Verbiss in Baumschonungen fest.“ Die Tiere seien wehrhafter geworden. „Nicht selten, dass sie sich formieren wie bei einer Wagenburg.“ Und sie beginnen, Gefahren genauer einzuschätzen. „Sie wittern den Wolf“, sagt Meyer. Ein Jäger gut 200 Meter von Rehen entfernt, ­das störe sie nicht. „Sie äsen weiter.“ Ein Wolf in genau der gleichen Entfernung – das beunruhige sie. „Sie trippeln nervös auf und ab.“ Und schon trete ein ganz neues Phänomen auf. „Jäger müssen nicht mehr unbedingt einen Wolf gesehen haben, um zu wissen, ob er da ist. Sie stellen es an der Reaktion der übrigen Tierwelt fest.“

Gleichzeitig beginne der Wolf immer unbekümmerter sein Revier als Zuhause zu empfinden. Jenes Rudel aus Otersen zum Beispiel. Offenbar eine richtige Familie mit Welpen, wie erste Beobachter feststellten, endgültig bestätigt ist das noch nicht. Sie labten sich an der reich gedeckten Tafel. „Wir haben hier einen hohen Damwildbestand.“ Sie ließen sich auch von Motorengeräuschen nicht stören. „Autofahrer staunten nicht schlecht“, sagt Helmut Meyer, „drei Wölfe nahmen ihr Mittagessen ein. Das spielte sich nur gut 150 Meter von der Fahrbahn entfernt ab.“

Nach Angaben des Umweltministeriums ist die Zahl der bestätigten Wolfsrudel in Niedersachsen inzwischen auf 23 angewachsen. Vor zwei Jahren waren es noch 18. Ein inzwischen nicht ganz kostengünstiges Unterfangen. Rund eine Millionen Euro fließen nach Angaben aus Hannover pro Jahr in die Rückkehr des Tieres, davon knapp drei Viertel in Schutzmaßnahmen und ein Viertel ins Wolfsmonitoring.