Am 28.2.1998 hielt der inzwischen verstorbene Prof. Paul Müller auf dem Verdener Kreisjägertag einen herausragenden Vortrag mit dem Titel „Die Jagd der Zukunft oder die Zukunft der Jagd?“[i]. Seinem Vortrag voran stellte er die drei Säulen seiner wissenschaftlichen Arbeit: Kompetenz, Professionalität, Nachdenklichkeit. Er gab uns mit, auch unser jagdliches Handeln an diesen Maximen auszurichten. Ich will versuchen, in diesem Artikel der letztgenannten Säule Rechnung zu tragen.
Der Einsatz von Drohnen mit Wärmebildkamera hat zu einer signifikanten Steigerung der Effektivität bei der Jungwildrettung – in erster Linie Rehkitzen – geführt. Als Erfolgskriterium wird die Anzahl geretteter Kitze im Verhältnis zur abgeflogenen Fläche angeführt. Im Gegensatz zu anderen Aktivitäten der Jäger(schaft) wird dieses Thema auch von der nichtjagenden Öffentlichkeit und den Medien positiv aufgenommen, oder, wie unsere Hegeringleiterin Antje Dahlweg es ausdrückte: Kitzrettung ist „sexy“.
Ich möchte im Folgenden einige Aspekte der Rehkitzrettung ansprechen, die bitte nicht als Wermutstropfen im süßen Wein des Erfolgs verstanden werden sollen, sondern auf Grundlage wildökologischer Gesetzmäßigkeiten auf die Folgen dieses Erfolgs abstellen – also „nachdenklich“ im Sinne von Prof. Müller sind. Denn Fakt ist: Der Rehwildbestand wächst durch die Kitzrettung. Diese Tatsache muss man vor dem Hintergrund der individuellen Beschaffenheit der einzelnen Reviere zwar differenziert betrachten, z.B. hinsichtlich der Revierstruktur (Feld, Wald), der Verkehrssituation, der landwirtschaftlichen Nutzung (Ackerbau, Grünland) und des „jagdlichen Blickwinkels“[ii] der agierenden Personen (hohe Wilddichte vs. hohe Artenvielfalt), aber es bleibt eine Tatsache.
Durch die Kitzrettung steigt der Rehwildbestand
Diejenigen von uns, die aktiv in der Rehkitzrettung unterwegs sind, haben sich sicherlich schon mit diesem Vorwurf konfrontiert gesehen: „Erst rettet ihr die Kitze vor dem Mähtod und später knallt ihr sie ab!“ Richtig! Jedes Reh, das als Kitz gerettet wird, kann später – hoffentlich – nicht „abgeknallt“, sondern weidgerecht erlegt und somit sinnvoll als hochwertiges Lebensmittel genutzt werden. Und die Entkräftung des genannten Vorwurfs ist ganz simpel: Bei der Kitzrettung geht es nicht um Bestandserhöhung, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Vermeidung von Tierleid!
Soweit, so gut – doch auch wenn die Kitzrettung nicht primär die Bestandserhöhung zum Ziel hat, ist sie doch eine logische Folge und die Frage ist, wie man damit umgeht. Hier hilft ein Blick auf wildökologische Gesetzmäßigkeiten und einige Besonderheiten beim Rehwild. Ein wildökologischer Aspekt ist z.B. die „Tragfähigkeit“ eines Biotops (Lebensraums), biologisch und wirtschaftlich. Nach ihr richtet sich die tolerierbare Wilddichte. Wobei die Zielstellung hinsichtlich der Abschussplanung sich nach der wirtschaftlichen Tragfähigkeit richten sollte. Hier gibt es bekanntermaßen unterschiedliche Sichtweisen zwischen jagenden Waldbewirtschaftern und Jägern in reinen Feldrevieren. Für Letztgenannte sind wirtschaftliche Schäden durch Rehe schlicht irrelevant – was machen Rehe als Konzentratselektierer schon für wirtschaftliche Schäden in Grünlandrevieren der Wesermarsch oder Ackerbaurevieren auf dem Geestrücken? Und die biotische Tragfähigkeit ist sowohl im Wald, als auch in Feldrevieren viel größer als die wirtschaftliche. Aber dort, wo keine wirtschaftliche Notwendigkeit besteht, aufgrund von Wildschäden den Jagddruck (auf Rehe) zu erhöhen, erfreut man sich des Anblicks – auch überhöhter Bestände.
Nun zu den Besonderheiten beim Rehwild: Während ein Zuwachs des Bestands bei anderen Schalenwildarten über kurz oder lang zu Abwanderung führt, steigt die Wilddichte beim Rehwild aufgrund seiner territorialen Lebensweise stärker an[iii]. Abwanderung findet im Vergleich in geringerem Umfang statt[iv] und endet in unserer Gegend meist auf der Straße. Nach oben begrenzt wird die Wilddichte durch die biotische Tragfähigkeit des Lebensraums. Aber ebenso, wie die Oberfläche der Erde zwar grenzenlos, aber endlich ist, so ist auch die biotische Tragfähigkeit der Reviere irgendwann am Limit[v]: Ab einer bestimmten Wilddichte wird der Bestand in einem Revier nicht weiter anwachsen, weil zum einen die Mortalität steigt und zum anderen die Reproduktionsrate sinkt. Ein natürliches Regulativ. Wobei „Bestand“ nicht mit „Population“ zu verwechseln ist. Allerdings sind mancherorts in Revieren mit bestimmten Biotopmerkmalen (z.B. eingezäunte Autobahnen, vielbefahrene Straßen, Flussläufe, Siedlungsbarrieren, Besucherdruck) die Bestände schon als isolierte Populationen zu betrachten – mit den bekannten Folgen der Degeneration durch Stress und genetischer Verarmung: geringe Wildbretgewichte, weniger Zwillingsgeburten, hohe parasitäre Belastung, viele Knopfböcke in der Jährlingsklasse und allenfalls mittelmäßige Gehörne in der Altersklasse.
Die Mortalität (Sterblichkeit) steigt
An der Mortalität sind verschiedene Faktoren beteiligt: Erlegung, Kfz-Unfälle, Prädation, Nahrungsmangel, Krankheiten, Wetterextreme und natürliche Sterblichkeit, wobei der Fallwildanteil (der Großteil durch Kfz) im Bereich der Jägerschaft Verden ca. 30% der Gesamtstrecke ausmacht[vi]. Die Summe der Sterblichkeitsfaktoren ist eine Konstante, und nur das Verhältnis der Faktoren zueinander ist variabel. Verringert sich ein Sterblichkeitsfaktor, wird er durch einen anderen kompensiert (Kompensatorische Mortalität). Einfach ausgedrückt: Jedes Reh, das erlegt wird, kann nicht mehr totgefahren werden. Nun fehlt bei der vorherigen Auflistung aber ein Sterblichkeitsfaktor: Mähverluste. Diese sind nur schwer zu erfassen und wurden bis dato auch von keiner Statistik erfasst. Erst jetzt, wo wir viele Rehkitze dank des Einsatzes von Drohnen retten, bekommen wir eine Vorstellung davon, wie hoch der Anteil der Sterblichkeit durch Mähtod am Rehwildbesatz in unseren Revieren bisher gewesen ist. Aus eigener Erfahrung als aktiver Drohnenpilot kann ich bereits nach meiner ersten Saison berichten: Die Anzahl der geretteten Kitze bewegt sich in einigen Revieren in der Höhe des bisherigen jährlichen Abschusses! Diese Rehe sind jetzt nun mal zusätzlich da – und sie werden sterben. Die Frage ist wie?
Jagd ist die wichtigste Stellschraube
Fakt ist: Durch die Kitzrettung steigen die Bestände und die Tragfähigkeit der Biotope (Reviere) ist endlich. Die Sterblichkeit wird steigen und wenn die Jäger nicht an der Stellschraube „Erlegung“ drehen, wird dieser Mortalitätsfaktor durch andere kompensiert werden – die Fallwildzahlen werden steigen.
Das ist alles nicht neu. Neu ist, dass die Revierinhaber sich nicht mehr auf behördliche Beschränkungen berufen können, die sie daran hindern, mehr Rehwild zu erlegen. Seit 2023 darf der jährliche Abschussplan bei Rehwild ohne Nachbewilligung um 30% überschritten werden – das ist im LK Verden ziemlich genau der Fallwildanteil an der Gesamtrehwildstrecke! Es braucht auch niemand befürchten, dass durch erhöhten Abschuss das Rehwild in seinem Revier gleich ausstirbt. Wenn mehr geschossen wird, nehmen andere Sterblichkeitsfaktoren ab, die Geburtenrate steigt und die Ricken setzen mehr weibliche Kitze. Auch ein natürliches Regulativ.
Wenn wir als Jägerschaft also weiterhin offensiv mit dem Pfund der uns auferlegten Verantwortung wuchern wollen, dann müssen wir auch entsprechend handeln. Was für eine Ironie: Wir retten Rehkitze vor dem Mähtod, weil wir Tierleid verhindern wollen und lassen zu, dass immer mehr Rehe unter die Räder kommen. Ist das kein Tierleid? Vom menschlichen Leid der Unfallbeteiligten ganz zu schweigen. Zur Erinnerung: Das Ziel der Hege nach §1(1) BJG ist ein artenreicher und gesunder Wildbestand – nicht ein möglichst hoher.
Auch die Tatsache, dass der bisher übliche Maximal-Abschussplan für Rehwild durch einen Minimal-Abschussplan ersetzt werden soll[vii], könnte für einige Jagdbezirke noch spannend werden. Zwar hatte der Gesetzgeber in Hannover bei der letzten Jagdgesetznovelle in 2022 hinsichtlich der Neuregelung der Abschussplanung für Schalenwild ausschließlich die Zukunft des Waldes im Blick, aber vielleicht kommen auf Kreisebene die Jagdbehörden ja auf die Idee, bei der Festsetzung des Minimal-Abschusses – analog zu Verbissgutachten und Wildweiserflächen bei Waldrevieren – in reinen Feldrevieren auch die Wildunfallstatistik bei der Abschussvorgabe mit einzubeziehen.
Befremdlich, aber durchaus ernst zu nehmen, sind für mich Antworten von befreundeten Revierinhabern auf die Frage, warum sie denn auch bei hohen Fallwildverlusten nicht mehr Rehwild schießen. Einige Beispiele: „Wir können ja kaum noch was schießen, das meiste wird doch totgefahren.“ Typische Umkehr von Ursache und Wirkung. Oder: „Wir haben auch gar nicht so recht Abnehmer für das Wild.“ Oder: „Ja – zu Weihnachten rennen sie einem die Bude ein, aber ich habe keine große Gefriertruhe, um das bis dahin vorzuhalten.“ Oder: „Der Wildhändler wollte fürs Kilo in der Decke einen Euro zahlen – da lass ich es lieber laufen.“ Anmerkung: Oder ich kratze es lieber von der Straße… Die ehrlichste Antwort war noch: „Ach, wenn ich schon rausfahre, will ich auch Anblick haben – ich muss nicht unbedingt was schießen.“ Ehrlich ja, aber man hat da draußen auch ein paar Aufgaben zu erledigen. Nur für Anblick kann man sich auch einen Naturfilm anschauen.
Für den Fall, dass es wirklich an den Absatzmöglichkeiten liegen sollte: Neben den mittlerweile hoffentlich bekannten Vermarktungsmöglichkeiten über die Waldfleisch-App, Wild-auf-Wild.de und traditionelle Kanäle gibt es den ultimativen Lackmustest für Jäger ohne Jagdgelegenheit: Biete Rehwildabschuss gegen Übernahme des Wildbrets zu fairem Preis. Wer diesen Test nicht besteht, den kann man schon mal für weitere Aktivitäten von der Liste streichen. Auch ein natürliches Regulativ.
In dem Sinne – Weidmannsheil
Dr. Ulrich Tucholke
[i] Vgl. Müller, Paul „Die Zukunft der Jagd & die Jäger der Zukunft“, Neumann-Neudamm 2009
[ii] Reimoser, F. „Wildökologie“. In: Obermair (Hsg.), Jagdprüfungsbehelf. Österreichischer Jagd- und Fischerei-Verlag (Jagd.at), 2023, S. 18-45; ISBN: 978-3-85208-180-9
[iii] Bauer, J. u. Linn, S.: „Rehwild: Dichte, Bejagung und Abwanderung“. In: Die Pirsch 10/1993, S. 38 ff.
[iv] Oswald, W.: „Modellierung der Populationsdynamik beim Rehwild“. Universität für Bodenkultur Wien, 2013
[v] Stubbe, C.: „Rehwild: Biologie, Ökologie, Bewirtschaftung“. Parey Buchverlag Berlin 1997.
[vi] Streckenstatistik der Jägerschaft Verden, https://jaegerschaft-verden.de/formulare/
[vii] Siehe §25 NJagdG v. 21.5.2022